„Reisebewegungen von inländischen und von ausländischen Patienten, welche selbstverständlich unterschiedliche Motive bei der Auswahl einer Destination oder differierende Erwartungen und Bedürfnisse haben können, (…) sollten (…) in allen Belangen getrennt betrachtet werden.“ – betont der deutsche Experte des Medizintourismus, Herr Jens Juszczak. Das ganze Interview, das viele praktische Ratschläge beinhaltet, ist unten zu finden. Auch ein neues Buch wird vorgestellt.
Ende Oktober fand ein Treffen zwischen den Mitgliedern des Instituts zur Erforschung und Entwicklung des Medizintourismus Prof. Dr. Frank-Michael Kirsch und Dr. Anna Białk-Wolf mit einem herausragenden Experten des Medizintourismus in Deutschland, Herrn Jens Juszczak, statt. Unter anderem diskutierten die Herausgeber noch offene Fragen zum Buch „Medizintourismus. Erfahrungen mit einer weltweiten Wachstumsbranche“, das im Januar 2017 erscheint. Drei deutsche, zwei polnische, zwei schwedische und ein norwegischer Forscher analysieren neueste Entwicklungen auf dem Gebiet grenzüberschreitender medizinischer Behandlung. Das tragende Kapitel zur empathischen interkulturellen Patientenkommunikation ist eine Gemeinschaftsarbeit von Anna Białk-Wolf (Danzig) und Frank-Michael Kirsch (Stockholm).
Ein weiteres Ergebnis des Treffens ist das nachfolgende Interview:
Kirsch, Białk-Wolf: Medizintourismus ist eine der wenigen weltweiten Wachstumsbranchen. Wird das mittelfristig so bleiben – was spricht dafür, was dagegen?
Juszczak: Jährlich kommen mehr als eine Viertel Million Patienten aus über 170 Staaten nach Deutschland. Innerhalb der letzten 10 Jahre hat sich die Zahl der Auslandspatienten fast verdoppelt. Für einzelne Länder, wie gegenwärtig für Russland, ist ab und zu auch ein Nachfragerückgang zu verzeichnen. Dieser wird aber meist durch steigende Zahlen in anderen Märkten ausgeglichen. Für die Zukunft lässt sich ebenfalls ein moderates Wachstum erwarten. Zum einen liegt das einer gleichbleibend hohen Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Behandlungen zu günstigen Preisen, zum anderen an einer immer besseren Vermarktung der Destinationen.
Beides lässt sich auch bei einer globalen Betrachtung anführen. Steigende Bevölkerungszahlen, eine zunehmende Lebenserwartung vor allem in den Industrie- und Schwellenländern sowie die damit einhergehende wachsende Anzahl von Erkrankungen sorgen auch zukünftig für eine große Nachfrage nach medizinischen Behandlungen. Nicht alle Länder können diese mit ihren Kapazitäten und in einer entsprechenden Qualität abdecken. Selbst wenn, wie in den VAE, eine ausreichende medizinische Infrastruktur geschaffen wurde, fehlt es oft an Ärzten und Pflegepersonal mit entsprechendem Know-how. Die Bereitstellungskosten medizinischer Leistungen erhöhen sich jährlich durch immer bessere und meist auch teurere Behandlungen sowie Medikamente, während Krankenversicherungen für immer weniger Leistungen eine Kostenerstattung übernehmen. Dies alles sorgt weiterhin dafür, dass Millionen Menschen jedes Jahr auf der Suche nach einem geeigneten Behandlungsort sind. Eine immer bessere verkehrstechnische Vernetzung der Metropolen begünstigt dabei den internationalen Medizintourismus.
Kirsch, Białk-Wolf: Welche Kriterien muss eine Klinik heute erfüllen, um als Destination für internationale Patienten in Frage zu kommen?
Juszczak: Ich unterscheide hierbei zwischen medizinischer und touristischer Destination. Primärer Reisegrund vieler Medizintouristen sind die medizinischen Behandlungen, d. h. es müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
– international ausgerichtete Einrichtungen der Spitzenmedizin, d.h. mit entsprechenden medizinischen Exzellenzen (z.B. onkologische Zentren, Protonentherapiezentren) ausgestattet
– motivierte Ärzte (i.d.R. Chefärzte) mit aktuellstem medizinischen und methodischen Kenntnisstand
– International Offices mit einem auf die Behandlung internationaler Patienten ausgerichtetem funktionierenden Prozessmanagement
– Sprachkenntnisse (Muttersprachler als Dolmetscher und Betreuer) und kulturelle Kenntnisse (vor allem Religion, Verpflegung, nonverbale Kommunikation)
– CheckUp-Zentren mit hervorragender technischer Ausstattung sowie niedergelassene Ärzte (vor allem in den Bereichen Zahnmedizin, Augenheilkunde, Plastische Chirurgie) mit einem auf ausländische Patienten ausgerichteten Angebot, internationale Apotheken und Sanitätshäuser
Aus touristischer Perspektive ist eine heilklimatische Umgebung und attraktive Landschaft natürlich von Vorteil. Wichtiger sind allerdings neben einer vorhandenen, übergreifenden und sichtbaren Ausrichtung auf internationale Gäste nachfolgende Punkte:
– eine optimale Verkehrsanbindung (Direktflugverbindungen zu Flughäfen im Herkunftsland)
– Organisation aller Transfers
– je nach Herkunft der Patienten eine gehobene Hotellerie und Gastronomie
– Möglichkeiten der Freizeitgestaltung
– Einkaufsmöglichkeiten (insbes. Luxus- und Markenartikel)
Die meisten der genannten Hauptkriterien enthalten weitere Unterkriterien, wie beispielsweise bei den International Offices: internationale Webseiten, Beantwortung der Behandlungsanfragen innerhalb von 48 Stunden in der Sprache des Herkunftslandes des potenziellen Patienten, Unterstützung bei der Visabeschaffung und vieles mehr.
Kirsch, Białk-Wolf: Wir sind der Auffassung, dass Medizintourismus ein internationales Phänomen ist. Das bedeutet, schon in der Definition Inlands- und Auslandspatienten zu unterscheiden. Gründe dafür sind unter anderem ähnliche Preise für medizinische Dienstleistungen in einem Land, gleiche juristische Bestimmungen und Restriktionen, unterschiedliche Patientenbedürfnisse und Einfluss auf die Auslandshandelsbilanz. Teilen Sie unsere Auffassung?
Juszczak: „Medizintourismus ist ein Subbereich des Gesundheitstourismus und bezeichnet die vorübergehende Ortsveränderung an einen Aufenthaltsort im In- oder Ausland, der kein dauerhafter Wohnort ist, zum Zweck einer geplanten medizinischen Behandlung (primäres Reisemotiv), welche kurativ, präventiv, kosmetisch-operativ orientiert sein kann. In Anspruch genommene Leistungen werden vom Patienten selbst oder durch Kostenträger bezahlt. Synonyme sind Patiententourismus, Kliniktourismus, Operationstourismus, Kurtourismus.“ Dies ist meine Definition des Begriffs. Zu erkennen ist, dass es sowohl Reisebewegungen von inländischen als auch von ausländischen Patienten gibt, welche selbstverständlich unterschiedliche Motive bei der Auswahl einer Destination oder differierende Erwartungen und Bedürfnisse haben können.
Dabei zeigt sich, dass diese bei Patienten aus dem Ausland deutlich heterogener als bei Inlandspatienten sein können. Auch wenn Rahmenbedingungen der Europäischen Union (zum Beispiel die EU-Patientenrichtlinie oder die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien) scheinbar eine Vereinheitlichung vorspiegeln, ist je nach Herkunftsregion der internationalen Patienten mit zum Teil hohen Aufwendungen und damit auch Kosten zu rechnen.
Wenn diese höheren Kosten sich allerdings aufgrund gleicher Abrechnungsbestimmungen nicht abbilden lassen, haben die Anbieter oft Probleme (z. B. Zurechnung von Leistungen, verdeckte Subventionen). Deshalb sollten meiner Meinung nach der nationale und der internationale Medizintourismus in allen Belangen getrennt betrachtet werden.
Kirsch, Białk-Wolf: In Ihrer Potenzialstudie Medizintourismus Berlin-Brandenburg 2015 erwähnen Sie, dass die Erlöse durch Auslandspatienten bei Kliniken mit International Offices etwa das Siebenfache gegenüber Kliniken ohne solche Einrichtungen betragen. Womit hängt das zusammen?
Juszczak: Internationale Offices sind professionelle, auf Auslandspatienten spezialisierte Abteilungen in den Kliniken. Sie organisieren nicht nur den Behandlungsaufenthalt, betreuen die Patienten oder erstellen Rechnungen, sondern vermarkten die medizinischen Einrichtungen aktiv in den Zielmärkten.
Sie arbeiten also nicht nur effektiv, sondern auch effizient. Durch eine eigene Vermarktung erreichen sie mehr potenzielle Patienten und verringern die Abhängigkeit von Dienstleistern wie Patientenvermittlern oder externen Dolmetschern. Diese Offices verfügen über durchorganisierte Prozesse und entsprechende Standards, so dass sie gegenüber Mitbewerbern ohne vergleichbare organisatorische Einrichtungen einen Wettbewerbsvorteil erlangen, egal ob dieser sich bei schnelleren Reaktionszeiten oder in einer qualitativ hochwertigeren Abwicklung der Anfragen zeigt.
Zudem ist eine strategische Ausrichtung vorhanden, welche ein sehr detailliertes Monitoring betreibt. Durch Informationen über die Art der nachgefragten Behandlungen, die Höhe der Behandlungskosten und den damit verbundenen Aufwand, ist es möglich, eine strategische Nachfrage-, Auslastungs- und Erlössteuerung vorzunehmen. Insbesondere Letztere trägt zur Verbesserung der Einnahmen bei, wenn beispielsweise primär Patienten mit teuren Behandlungen eingeworben werden (zum Beispiel Knochenmarktransplantationen, Krebsbehandlungen) und auf nicht so lukrative Angebote wie Gesundheits-CheckUps verzichtet wird.
Vielen Dank für dieses Gespräch!